"Du
brauchst einen Plan, was Du einmal werden willst!", hieß
es mit einem Mal und der Auftrag zielte keineswegs auf ein Heldendasein
ab. Niemand fragte schließlich, wer ich einmal werden will.
Mir machte es Angst, dass offenbar alle anderen einen solchen Plan
haben sollten. Da mir anscheinend niemand bei dessen Entwicklung
mit dem nötigen Verständnis bei Seite stehen wollte, beobachtete
ich, was die anderen taten. Da offensichtlich alle an dieser Welt
ihren Spaß hatten, ging ich davon aus, dass mit mir etwas nicht
stimmen konnte. Auf irgendeine Weise war ich scheinbar ein Andersdenkender
geworden. So fühlt es sich jedenfalls an, wenn man nicht weiß: "Ist
alles so toll, wie es scheint?" Um meiner Dissonanz mit dem Geschehen
um mich her Ausdruck zu geben, kleidete ich mich schwarz, trug mein
Haar lang, und verweigerte mich zunehmend den üblichen Ritualen.
Scheint es nur mir als unaufrichtig, wie sie sich verhalten und
hinterfragt denn niemand, ob es gut oder falsch ist, alles so zu
tun, wie "man" es macht. Ich distanzierte mich von dem "Man"
und den Vielen. Verabredeten sich die anderen doch scheinbar nur
zu sinnlosen Feiern, auf denen mit Smalltalk Freundschaft geheuchelt
wurde. Am Ende aber schien jeder und jede dennoch ihre Erfüllung
gefunden zu haben. War alles nur Oberfläche, oder war die Oberfläche
schon alles? Als gäbe es eine Geheimsprache, die mir niemand beigebracht
hatte. Waren das die Praktiken und waren Täuschen und Überlisten
wiedererwarten doch eine Tugend? Während die anderen Partys veranstalten,
wunderte ich mich über Freud und Leid in dieser Welt und hing meinen
Frauenträumen nach. Langsam baute sich eine innere Hülle auf, die
mich schützen sollte und die mich verbarg hinter einer Maske aus
Coolness und Souveränität. Ich simulierte Unabhängigkeit. War man
mir damals begegnet und hatte man mich gefragt, was ich mit meinem
Leben anfangen will, so entgegnete ich: "Kein´ Plan!" Was nur konsequent
war in einer Zeit, da die gängige Parole lautete: "No future!"
Ob
es Trotz war oder nicht, ich habe es so gefühlt. Ich lief durch
die Straßen und steckte nur kurz meine Nase in die Kneipen, Discos
und Clubs in denen Freude und Ausgelassenheit zu herrschen schienen.
Ist das Leben ein Als ob? Gibt es nirgendwo einen festen Grund?
Lebten wir deshalb in diesen doppelten Welten, und war das der eigentliche
Grund für den Drogenkonsum? Es war nicht cool, es war ein letzter
Ausweg. Insgeheim stellte sich jeder die gleichen Fragen! Die Kunst
lag nur im angemessenen Verdrängen. Was ist mit den Werten und der
Gerechtigkeit, was in jeder der Geschichten, die man sich erzählte,
das höchste zu erreichende Gut waren. Niemanden schien sich im echten
Leben darum zu scheren oder auch nur zu interessieren. Nirgendwo
hielt es mich! Ich sah überall Krieg und Streit, Anmaßung und Leid,
Hunger, Sex und Unterdrückung, während allerorten von Liebe, Verständnis
und gegenseitiger Hilfe gepredigt wurde! Nein, ich war fremd in
dieser Welt, in der sich alle darum bemühten sich zu amüsieren.
Das Leben musste ein riesiger Spaß sein, und war nur mir so fremd?
Meine Freunde wurden weniger, sie hielten mich für arrogant. Ich
reagierte mit einem verächtlichen "Fuck Off", und die Spirale in
die Einsamkeit nahm ihren Lauf. Aber was machte das Leben lebenswert,
wenn ich nicht so sein konnte, wie ich war?! Jedes Mal, wenn ich
so dachte, erschein allerdings sofort ein großes Aber: Vielleicht
wusste ich einfach nicht, wie ich wirklich war und was ich zu tun
hatte! Wer sagte mir, ob ich nicht über jenen Schatten springen
musste, der sich mir in den Weg stellt, jeden Tag wieder, dann würde
sich auch mir das Glück erschließen. Nur einer blieb für immer:
Der Zweifel. Niemals mich verleugnen - das stand ganz oben in meinen
Geboten. Das durfte nicht geschehen, ich musste immer ich selbst
sein. Die Aufrichtigkeit mir gegenüber und dem, was ich wollte,
das war das Letzte, was ich aufgeben durfte! Ich schlug meinen Mantelkragen
hoch und begleitete mich selbst in den Schaufenstern der Stadt und
durch die Pfützen auf dem Asphalt.
Wir
hatten seit mehr als dreißig Jahren nicht voneinander gehört,
als das Telefon klingelte und M. mich unvermittelt fragte, ob
ich ihm den Gefallen tun könnte, ihn vom Krankenhaus abzuholen
und ihn "endlich nach Hause zu bringen", wie er sich ausdrückte.
Als ich den Wagen stoppte, wie von ihm angewiesen, standen wir
vor einer Villa - ehemals die seiner Eltern -, und er dankte
mir und verabschiedete sich mit den Worten, er wollte eigentlich
seine Wohnung niemals wieder betreten, aber ... Mit einem Achselzucken
stieg er aus dem Wagen. Das ereignete sich zwölf Monate nachdem
er seinen Selbstmordversuch überlebt hatte. Von dem ich erst
während dieser Fahrt erfahren hatte. Noch nie sprach jemand
so offen zu mir, wie M. auf jener Autofahrt. Ich fühlte mich
ihm näher denn je. Er müsse jetzt viel nachdenken sagte er mir,
"Nicht jeder bekommt eine zweite Chance!" Damit hatte er verdammt
recht, doch gleichzeitig grinste er dabei so ungläubig, dass
es mir schwer fiel, ihm abzunehmen, dass er daran wirklich glaubte.
Vielmehr schien seine Mimik sagen zu wollen: "Mal sehen, wie
lange ich es diesmal durchhalte!" Als ich losfuhr, nachdem ich
noch einige Minuten still verharrend im Wagen über seine Worte
nachgedacht hatte, sah ich noch, wie er dabei war sämtliche
Vorhänge und Jalousien zuzuziehen. In dieser Nacht geschah ihm
das Unverhoffte.
»A
Genesis«
M.,
The Gamer, B.B.
1. Closed Paradise
Der Aufenthalt in der Rehabilitations-Klinik
dauerte beinahe ein Jahr. Man hat sich sowohl körperlich
als auch mental fürsorglich um M. gekümmert und ihn
letztendlich als psychisch stabil eingestuft entlassen. Es war
eine anstrengende Zeit und M. fühlt sich immer noch leer,
allerdings auch irgendwie erleichtert, obgleich er keine Ahnung
hat, was er nun mit dem wiedergewonnen Rest seines Lebens anfangen
soll. Das mit dem Glück und dem Schmied haben sie ihm in
der Therapie zur Genüge versucht klar zu machen, doch das
war ihm doch nichts Neues, es kam ihm so alt und so verdammt
bekannt vor. Und sobald er darüber nachdachte, tat sich
ihm wieder der Spalt auf zwischen Einsicht und Handeln, zwischen
Philosophie und Leben. Für ihn steht nur eines fest, dass
er an sein altes Leben nicht wieder wird anknüpfen können.
Er
legt seine Sachen ab und schließt als erstes die Fensterläden
seines alten, neuen Zuhauses, das ihm gänzlich fremd
erscheint. Er lässt alle Jalousien herunter und, als
sei es noch nicht genug, zieht er sämtliche Vorhänge
vor die mannshohen Fenster. Die alte Villa hat ihm schon immer
Angst oder zumindest Respekt eingeflößt. Heimisch
hat er sich hier nie gefühlt. Auch nicht damals, als
er noch zu Besuch hierhergekommen war. Zumeist in den Ferien,
für einige Tage, immer dann wenn seine Eltern für
sich sein wollten. Da er sie nun alle überlebt hatte,
sowohl seine Eltern, als auch seine Großtante, die letzte
stolze Besitzerin des Anwesens, konnte er sich Eigentümer
dieses herrschaftlichen Hauses bezeichnen. Wohl fühlt
er sich dennoch nicht. Als Erbe beschleicht ihn sowieso stets
das Gefühl einer Spezies der Schmarotzer anzugehören.
Er hat es sich nicht verdient, hier zu leben, was er aber
auch zu keiner Zeit angestrebt hatte. Auffallend ist, mittlerweile
stört er sich an derlei Dingen kaum noch ernsthaft. Vieles
in seinem Leben war nicht so gelaufen, wie er sich das vorgestellt
hatte. Man gewöhnt sich daran. Und im Vorstellen, da
war er schon immer Weltmeister gewesen. Er denkt ungern zurück,
an die ganzen Spinnereien und Utopien, die er sich ausgemalt
hatte, von einer gerechten und vernünftigen Welt und
einer Menschheit, die von der reinen Wissenschaft geleitet
im Jahre 2050 schließlich friedfertig auf dem Mond in
phantastischen Glaskugeln wohnen würde und mit ihren
Kindern jeden Sonntag einen Ausflug zu den berühmtesten
Kratern machen würden. Fortschritt galt ihm da noch als
Verheißung. Er war das Versprechen auf eine bessere
Zukunft. Doch mehr als Sentimentalität war nicht daraus
geworden.
Es
war beschlossene Sache, und eigentlich das Resultat seiner
lange andauernden Grübelei, gegen sein eigenes Leben
und sich selbst. Er will sich dieser Prozedur nicht länger
aussetzen, nicht länger nachdenken, endlich seinen Frieden
finden: Er kehrt nun endgültig der Welt dort draußen
den Rücken. Er will sich allem weiteren Scheitern verweigern.
Weltverweigerung scheint seine noch einzig verbliebene Motivation
zu sein, angesichts der gescheiterten Utopien, und einer offensichtlich
dem Schwachsinn verfallenen Menschheit. Die Welt hat ihn nicht
weniger als um sein Leben betrogen, weshalb sollte er noch
einmal einen Schritt nach draußen, auf sie zugehen?
Er wollte es deswegen schon beenden, und wenn es nun sein
Los war, weiter machen zu müssen, dann in seiner eigenen
Welt, in der er der Held ist! Es gibt niemanden, dem er noch
verbunden ist. Es ist gewiss auch zum Teil seiner bevorzugten
Situation geschuldet, in die die unerwartete Erbschaft ihn
gebracht hat. Und die es ihm erlaubt, sich abzuwenden. Er
ist versorgt bis zu seinem Ende, wenn er nicht große
kapitalistische Fehler begehen würde. Und gleichzeitig
ist es so etwas wie der Vorschuss für sein Ende. Er sitzt
im gemachten Nest, in einer sicheren, behüteten Welt.
Und ja es stimmt, noch nie zuvor ging es der Menschheit so
gut wie heute, - aber ist die Utopie seiner Generation deshalb
schon aufgegangen? Noch nie erschien ihm die Welt auch so
irre, und er konnte sich, gemessen an den äußeren
Umständen, selbst noch zu den Glücklichsten zählen,
denen es unverschämt gut ging! Weswegen, ist er es dann
nicht? Was hindert ihn glücklich zu sein? Alle diese
Widersprüche lähmten ihn, machten ihn selbst irre
und hinderten ihn irgendetwas zu tun. Es sind die unauflösbaren
Wiedersprüche, die er schon einmal glaubte, nicht mehr
aushalten zu können. Sollte er sich deswegen schämen?
Konnte er selbst etwas dafür? Verpflichtete ihn der Vorzug
seiner Geburt und Existenz zu irgendetwas? Jede Generation
ist eine geworfene, in eine Welt, die sie selbst ja nicht
gemacht hat. War es etwa seine Entscheidung - 1964 -, auf
diese Welt zu kommen? Keineswegs will M. ungerecht sein, denen
gegenüber, die es nicht so gut getroffen hatte. Aber
auch das lag außerhalb seines Verantwortungsbereiches;
der - und das ist ihm wahrscheinlich das Schlimmste - ihm
immer mehr abhandenkam. Er ist und war nun einmal ein männliches,
westliches, weißes Kind aus einer wohlbehüteten
Kinderstube - ganz ohne sein Zutun. Und hat er es nun versaut?
M.
greift zum Telefon und bestellt sich noch etwas zu essen.
Dann setzt er sich an seinen Computer. Ein weißer Lichtblitz
durchzuckt das vollkommen abgedunkelte Zimmer, kurz bevor
ein tief blauer Schimmer sich auf die Wände legt. Er
startet ein Spiel, er ruft seine Welt auf! Endlich in seine
Welt fliehen - und wenn Schopenhauer recht behalten sollte,
wäre es eh immer nur die seine, die von ihm vorgestellte
Welt, in die er sich begibt. Da sollte es egal sein, ob sich
ihm diese auf dem "Holo-Deck" realisiert. Das einzige
Ziel ist schließlich, der Held des eigenen Lebens zu
sein!
Während die neuen Welten heraufziehen, die nie ein Mensch
zuvor gesehen hat, unbekannte Universen das Zimmer erfüllen
und das Spiel M.´s Avatar in Stellung bringt, versinkt M.
in seinen Gedanken. Er fühlt sich wehrlos seinen Erinnerungen
ausgeliefert und sieht sich plötzlich - wie aus sich herausgetreten
- von außen, inmitten seiner ungezählten Kollegen und Kolleginnen
seiner Generation. Er erkennt seine einstigen Schulfreunde
und Betula, seine unvergessene Liebe und alle Gefährten seines
Lebens. Zusammen mit den Gesichtern seiner Generation, steht
er im Kreis um den spielenden M., beobachtend, wie der mit
aufgerissenen Augen paralysiert in drei große Bildschirme
starrt.
Gemeinsam
stimmen die Vielen ein Lied an. Sie singen und resümieren
über eine verspielte Generation, ihre Generation? Was ist
deren Rolle heute, als Teil der alten, analogen Welt, die
zu Ende geht und in der sie selbst die Letzten ihrer Spezies
gewesen sein sollten? In ihrer Liebe zum Fortschritt und ihrer
Unersättlichkeit am Guten und ihrer Begeisterungsfähigkeit
zur Illusion haben sie doch auch die Gadgets und Chips ersonnen,
die computergesteuert die Menschheit in die Globalisierung
beförderten. Sie haben ja tatsächlich ins Leben gerufen, was
in ihrer Kindheit noch als Science-Fiction galt. Und sie taten
es nicht einfach so, sondern weil in einer vernetzten Welt
der Zukunft niemand mehr den anderen als "Feind" bezeichnen
sollte. In den unendlichen Weiten des Universums sollte Leben
gefunden werden, das uns ungeahnte Erkenntnisse vermitteln
würde und dem wir im Gegenzug Liebe und Frieden lehren würden.
Ideale einer alten analogen Welt, die wir geradezu selbstverschuldet
zu Grabe getragen haben? Weil wir sie eigentlich hinter uns
lassen wollten, indem wir alles dem Fortschritt opferten,
allein um des Fortschritts Willen!?
Gemeinsam
singen sie von ihrem Zuhause, in dem sie unantastbar sind,
in das sie sich zurückziehen, und von der neuen, digitalen
Welt, dort draußen, in der sie die Ersten sind, die sie entdeckt
haben, ja eigentlich selbst kreiert haben, und dennoch nicht
ihre Gesetzmäßigkeiten verstehen und wahrhaben wollen? Die
Letzten sollen die Ersten sein! Doch was nützt es ihnen, wenn
die Ersten schlussendlich zu alt sind, um noch zu verstehen?
Sie fragen sich, wo war der Moment, als das Ende ihrer Individualität
- der Vielen - eingeleitet wurde? Ihre Chancen, Möglichkeiten
und Hoffnungen auf eine intelligente, moderne Welt enttäuscht
wurden, obgleich sie Teil und Ursache derer waren, die das
Neue wollten und dabei nur das Alte zerstörten?
Der
Chor verstummt, das Licht erlischt. Der Raum ist nur noch
wohliger Uterus. M.´s Mimik verzerrt sich angestrengt, er
verschmilzt mit seinem Avatar und mutiert zum Gamer. Für ihn
gelten nun nur noch die Befehle der Maschine: "Start the
game! Load the weapon! Break the score! Be the hero of your
game!" Aus den Lautsprechern dringen Detonationen, Motoren-
und Düsenlärm, das Zischen der Raumschiffe, die durch Raum
und Zeit schießen. Schüsse und Schreie, Schussfeuersalven
versetzen den Gamer in sein selbstgewähltes Inferno aus Feuer,
Blitzen, Rauch und Trümmern, das er beherrscht! M. kämpft
als The Gamer um sein Leben - hier ist er Gott!
»Our
Generation - Part One«
M.,
The Child
3. The Child
Der Gamer stürmt im Lichtkegel seiner
persönlichen Drohne durch die Gassen und Straßen
einer zerschossenen, menschenleeren Siedlung. Plötzlich
hält er inne. Aus einem der zertrümmerten Häuser
vermeint er einen Schrei oder ein Rufen gehört zu haben.
Er dringt in die Ruine des Wohnhauses, seine Drohne dicht
bei ihm, den Weg erhellend. Vielleicht lassen sich noch Zivilisten
retten. Hektisch kämpft er sich über Schutt und
durch Berge von Trümmern. Raum um Raum durchsucht er
die dunkle Behausung, die von Staub durchsetzte Luft erschwert
das Atmen und lässt keinen weiten Blick zu. Am Ende des
Flurs angekommen bricht er die letzte noch verschlossene Tür
auf.
Mit größtmöglicher Aufmerksamkeit stößt
er ins Dunkel vor. Seine Drohne zieht ihre Lichtspur durch
die Finsternis. In das Zimmer dringt langsam die Staubfahne
vom Flur herein. Im Lichtkegel seiner Drohne bemerkt er in
einer Ecke des Raumes eine Bewegung auf dem Boden. Er kann
sich gerade noch zurückhalten und unterlässt es,
seiner ersten Reaktion freien Lauf zu lassen und darauf zu
feuern. Er erkennt ein kleines Kind, das noch zu jung scheint,
um laufen zu können. Die Silhouette des Gamer zeichnet
sich im Licht der offenen Tür ab und muss für das
Kind erschreckend und Furcht einflößend sein. Doch
es krabbelt unbeeindruckt von der Situation auf einer zerfetzten
Matratze um ein Buch herum und deutet mit seiner kleinen Faust
darauf, als habe es den Gamer erwartet und wollte ihm etwas
zeigen.
Der Gamer wischt sich den Schweiß aus den Augen und
leuchtet die Ecke aus. Er legt seine Waffe ab und nähert
sich der Matratze. Das Kind will ihn offenbar ansprechen,
aber vermag noch keine Worte hervorzubringen. Der Gamer kniet
sich nieder, beugt sich zu dem Kind auf die Matratze und versucht
zu erkennen, worauf es die ganze Zeit hartnäckig hindeutet.
Im Schein der Lampe erkennt er, ein aufgeschlagenes, reich
bebildertes Buchs, welches das Kind ihm offensichtlich zeigen
will. Er setzt sich, nimmt das Kind in den Arm und legt sich
das Buch auf die Knie. Nach genauerem Betrachten der Darstellungen,
kommen ihm die Darstellungen seltsam vertraut vor. Er sieht
sich alles ganz genau an. Noch kann er nicht erinnern, wo
er sie schon einmal gesehen hat, ja er ist sich nicht einmal
sicher, ob er sie überhaupt je schon einmal gesehen hat.
Vielmehr schickt ihm jede der abgebildeten Situationen einen
Schauer über den Rücken. Alles ist sehr bekannt
und irgendwie innig vertraut, aber ohne sich ihres Anblicks
erinnern zu können.
Als könnte er diese Momente wieder spüren, die Gerüche
wahrnehmen und die Situationen erleben, so nah ist er den
abgebildeten Situationen. Augenblicke der Ewigkeit vergehen,
dann sieht er erschrocken zu dem Kind, das ihm jetzt ebenfalls
unheimlich vertraut erscheint. Spontan ergreift er dessen
Hand und klappt das Buch zu. Er will wissen, was er da in
Händen hält. Die neun goldenen, in Leder gravierten
Buschstaben auf dem Buchdeckel verraten ihm, es ist sein
"L i f e a l b u m".
Da sieht er das Kind erneut an und weicht erschrocken zurück.
Er ist drauf und dran aufzuspringen. Er erkennt sich in dem
Kind wieder. Es ist das Kind, das er - M. - vor langer Zeit
einmal war. Er sieht in seine Augen und sie sehen ihn
an. Er fühlt, wie sich Blicke treffen, die es nicht geben
dürfte. Das Kind öffnet ihm den Buchdeckel erneut
und stiert M. jetzt mit einem glühenden Blitzen in seinen
gar nicht mehr kindlichen Augen an und der unmissverständliche
Blick lässt jeden Widerwillen in M. vergehen. M. ist,
als müsste er sich übergeben, weil er weiß,
dass es jetzt kein Entkommen mehr gibt. Er begibt sich auf
die Reise durch das eigene ICH!
»The
Child«
PART
2
The
Child, The Devil
4. The Devil
Lies Under My Bed
Also, ich: Ich
bin ein Kind des 20. Jahrhundert - wie der Zufall es will
- im vierundsechzigsten Jahr geboren. Meine Wiege stand im
Grünen und die Sommer waren heiß. Die Glocken klangen
vertraut vom nahen Kirchturm herüber und die Tage nahmen
ihren bedächtigen, regelmäßigen Lauf. Man
prophezeite mir, es sollte nicht viel geschehen, wenn ich
mich stets an die mir zugedachten Pflichten hielte. Und sofort
stellte sich mir die erste Frage, auf die ich nie eine Antwort
bekommen sollte: Wie konnte man nur immer wissen, was das
richtige zu tun wäre und was man denn konkret zu tun
hatte? Keiner sagte einem klar und deutlich, was das Leben
bringen sollte. Nur, dass man nicht abweichen durfte, das
schien ausgemacht! Eigenlob stank noch, und der Esel nannte
sich immer zuerst! Ich also, kam immer erst danach. Alles
war in Andeutungen verpackt und selbst das, was man Aufklärung
nannte, kam in Verschlüsselungen daher. Als sprächen
die Erwachsenen allwissend in geheimer Erwachsenensprache,
die man erst zur Gänze verstehen würde, wenn man
erwachsen sein würde. Bis dahin bestand die Welt hauptsächlich
aus Metaphysik, ohne dass wir wussten, was das war. Jeder
spielte seine Rolle todernst mit einer Selbstverständlichkeit,
die einen nicht im Entferntesten daran denken ließen,
dass etwas nicht so sein könnte, wie es war. Nur unerklärlich
für mich blieb, woher jedermann ganz selbstredend zu
wissen schien, was er zu tun hatte. Ein Mann muss tun, was
er tun muss, wie es so dumm hieß! Und selbst einige
meiner Schulkollegen taten ständig so, als wäre
alles klar.
Die größte Show im Dorf allerdings fand immer am
Sonntag statt. Da musste jeder hin, daran war nicht zu rütteln.
Zur Kirche hatte man zu gehen, egal wie alt und erfahren man
war. Das Heilige besteht stets aus Grundsätzlichem und
brutaler Konsequenz im Handeln. Man droht dort gerne! Dort,
wo die wenigsten Abweichungen genehmigt sind, dort wird es
am heiligsten. Das war beim Vater und beim Heiligen Vater,
der aber nur immer seine Vertreter schickte. Man lernte schnell
die Welt von Oben nach Unten zu lesen und begriff dabei instinktiv,
dass Unten dort war, wo man sich selbst befand. Die einzige
Hoffnung bot offenbar das Älterwerden. Wenn es eine Aussicht
auf Aufstieg in der Hierarchie der Welt geben sollte, dann
lag sie vor allem im Altern. So hieß es endlich erwachsen
werden, dann musste es gut sein! Um das anständig über
die Bühne zu bekommen, sollte man bis dahin die Regeln
befolgen.
Jede
Nacht fragte ich mich, ob ich heute wohl alles richtiggemacht
hatte. Mein Verhalten niemandem Anlass zur Beanstandung gegeben
hatte. Es waren mir die Schlimmsten Moment des Tages; den Tag
Revue passierend erkennen zu müssen, dass ich jemanden
ungerecht oder schlecht behandelt hatte. Das Tragische dabei
war: Man konnte nie wissen, sich nie sicher sein, alles war
Vermutung! Das war wie gemacht, um größtmögliche
Selbstdisziplin zu erzeugen, was mir damals allerdings keineswegs
bewusst war. Geredet wurde eh nicht viel auf dem Dorf und das
Wenige bestand aus Andeutungen für den Kreis der "Wissenden",
zudem man sich dazu zählen konnte oder eben nicht. Oder
zu denjenigen, die so taten, als wüssten sie, um was es
geht im Leben. Wäre man aufrichtig gewesen, hätte
die Mehrheit zugeben müssen, dass sie von nichts wusste,
und alle nur aus Unsicherheit zur Maskerade verleitet waren.
Damals wurde mir beigebracht, dass Wissen zu heucheln, Zugehörigkeit
sichert. Und das ist wohl eine der wenigen allgemeinen Wahrheiten,
nur hatte ich das Gefühl, Zugehörigkeit war mir nicht
so wichtig, wie die Wahrheit, womit die meisten am wenigsten
rechneten. So sah ich, wie sich mir Spielraum eröffnete,
die Unsicherheit zwar vermehrte, aber mir die Möglichkeit
offenhielt, die anderen das ein oder andere Mal vor den Kopf
zu stoßen. Wer nicht um jeden Preis dazugehören will,
den kann man nicht erpressen! Des nachts allerdings zu spekulieren,
ob man auf dem rechten Weg sei, bekam mir gar nicht gut. Jede
Nacht wurde ich von Versagensängsten heimgesucht. Das Kind
kämpfte mit seinem Gewissen. und damit, dass es regelmäßig
das Bett vollpinkelte. Welcher Sinn steckt überhaupt dahinter,
dass ich existierte? Wäre nicht alle Unsicherheit aufgehoben,
wenn es mich gar nicht gäbe? Weshalb nur hat man mich ohne
meinen Willen hierher - auf diese Welt - gebracht, wenn ich
nun hier in meinem Bett vor Angst jede Nacht beinahe sterben
sollte, oder wollte?
Da musste wohl Gott dahinterstecken, wie man so sagte, dessen
Geschichten ich sonntags anhören musste, in der Hoffnung
auf Erlösung - wovon auch immer! Und gerade noch ehe mein
Gedankenkarussell sich überschlagen sollte, raunte mir
dann schließlich diese Stimme zu, die durch die Kissen
direkt in meinen Kopf drang. Es schauderte mich und gleichzeitig
klangen die Worte warm und von Ruhe getragen, dass sie mich
vollständig durchdrangen. Es faszinierte mich und verhieß
mir - da jemand zu mir sprach -, dass ich doch nicht allein
war, es jemanden gab, der es gut mit mir meinte. Er sei der
Lichtbringer, dessen Helligkeit mir die Rätsel erhellen
würden, die mich umtrieben. Der mir die Nächte erträglich
und meinen Kopf erleichtern würde. Er, der Teufel, wüsste
schließlich, um was es hier, in einem irdischen Leben,
geht! Endlich! Das Angebot war kaum auszuschlagen. Das war die
Stimme, die offenbar um meine Ängste und Nöte wusste!
Die nicht immer um den heißen Brei herumredete! Würde
der Teufel endlich die Welt beim Namen nennen? Der Teufel machte
mir bald keine Angst, im Gegenteil, der Teufel wurde mein Verbündeter. "Ich zeige Dir den richtigen Weg, für ein gelungenes
Leben, wenn Du mir versprichst ihn niemals wieder zu verlassen!"
Das hatte ich nicht vor! Alles in meiner Macht Stehende gedachte
ich zu tun! Also willigte ich ein und versprach seinen Rat für
immer im Herzen zu tragen. So sprach der Teufel: "Glaub
nicht an den Unsinn, den die Prediger Dir prophezeien! Tue stets
nur, was Du unbedingt willst! Höre auf Dein Herz und folge
Deinen Träumen! Darauf geb´ ich Dir mein Wort und
Garantie: Wenn mein Rat nicht funktioniert und Du daran zu Grunde
gingest, - Du selbst sein zu wollen - dann kannst Du deine Seele
gerne doch behalten. Verlässt Du allerdings vorschnell
meinen Weg, weil er Dir zu mühsam ist, dann ist sie mein,
Dein kleines Seelchen!"
Den Satz schloss er mit einem teuflischen Kichern, aber das
hat mich schon nicht mehr interessiert. Ich war der schlaflosen
Nächte und Alpträume so überdrüssig, dass
ich nichts lieber wollte, als endlich meinen Frieden finden.
Ich wollte unbedingt, diesen Rat befolgen. Statt des Aberglaubens,
sollte ich wissen, so der Teufel, gibt es nur den einen wahren
Glauben, den "Glaube an dich selbst! Sei Du selbst!"
- Das werde ich unbedingt versuchen - für mein Leben!
»The
Devil Lies Under My Bed«
M.,
The Many
5. When It
Was Sixty-Four
Die Eltern dachten
wohl - wie so viele -, sie hätten den neuen Heiland geboren.
Zumindest schienen die Sprösslinge der Nachkriegsgeneration
mehr zu sein, als nur Nachwuchs. Die Wolken einer dunklen
Vergangenheit schienen sich verzogen zu haben, der Himmel
war ununterbrochen blau und wir lagen auf weißen Laken
gebettet im grünen Gras der Vorstadtsiedlungen. Unsere
Mütter schoben uns stolz in futuristisch gestalteten
Kinderwägen vor sich her, als sollten wir frühestmöglich
eine Ahnung von unserer Weltraum-Mission bekommen. So führten
sie uns auf Spielplätze und setzten uns in Karussells,
die die Formen und Farben des technischen Fortschritts zitierten.
Sei es, als weiße Sputnik-Kugeln oder schwarz-weiße
Apollo-Zigarren. Hier und jetzt schien die Zukunft ihren Anfang
zu haben und wir sollten offensichtlich die Protagonisten
werden. Noch nie galt die Sorge so sehr der Zukunft, wie nach
dem schrecklichen Ereignis des Zweiten Weltkrieges. Die Großeltern
waren die Zeugen des Schreckens geworden und deren Kinder
wollten nichts mehr, als das Grauen hinter sich lassen. So
wandte man sich nach vorn und musste die Kleinsten vorsichtshalber
vor allem und jedem warnen. Keine Sorge schien unangebracht,
um sie uns mit ins Säckchen zu packen den wir auf unseren
Weg mitbekamen. Mein Vater war mit den Zwängen und Entbehrungen
des Krieges aufgewachsen, aber war deshalb alles mit Vorsicht
abzustempeln, wie von einem unsichtbaren Gerichtsvollzieher,
noch ehe wir es selbst mit eigenen Sinnen erfahren konnten?
So geriet unsere Welt manchmal ziemlich kleinteilig, bei aller
Fortschrittsgläubigkeit. Unsere Welt erschien deshalb
als eine verheimlichte und verborgene und motivierte uns um
so mehr unser Leben deren Aufdeckung zu widmen. Wir waren
diejenigen, die sie wiederentdecken wollten. Und am Horizont
dämmerte bereits Befreiung herauf, die in Form von Rock´n´Roll
aus den Transistorradios unserer Eltern schallte. Wo lag eigentlich
dieses San Francisco, wo ich hinkommen sollte?
Um
mich von der Grübelei der Nächte abzulenken freute
ich mich auf den nächsten Nachmittag! Es unterschieden
sich die Nachmittage wesentlich von den Vormittagen, die ich
in der Schule zubrachte. Der Vorzug der Schule war es lediglich,
dass man dort Freunde traf und sich für die Nachmittage
verabreden konnte, für neue Abenteuer und Spiele. Ein
weiterer nicht unwesentlicher Nebeneffekt war es, dass man
sich in der Nähe von Mädchen aufhalten konnte, ohne
sich verdächtig zu machen. Mir war es zwar nie je in
den Sinn gekommen, ein Mädchen zum nachmittäglichen
Spiel einzuladen, aber mir war auch nicht klar, weshalb das
so war. Es fühlte sich lediglich so an, als ginge es
im Zusammentreffen mit den Mädchen irgendwie anders zu
und eine Verabredung deshalb unpassend wäre. Die Buben
spielten mit den Buben, die Mädchen mit den Mädchen,
so war es auf dem Pausenhof. Lediglich unterbrochen von gegenseitigen
Störungen und Hänseleien. Dafür war die Schule
eigentlich ganz amüsant. Doch Lehrer konnte ich nie ausstehen.
Sie gehörten der einschüchternden Fraktion an. Mit
Einschüchterung operierten Väter, Pfarrer und eben
Lehrer. Ihr sublimstes Mittel war, in Rätseln von der
Zukunft zu sprechen und in Andeutungen auf einen Weg hinzuweisen,
den man vermeintlich zu gehen hatte. Das schien ihre Mission,
aber gar nicht mein Ding zu sein. Das machte sie mir verdächtig.
Sie taten es mit einer stillschweigenden Verbundenheit und
mit solchem Nachdruck, dass man erstmal gar nicht auf die
Idee gekommen war, dass es noch einen anderen Weg geben könnte,
um älter zu werden. Ich hatte das Gefühl, eher würde
man sterben, wenn man den "richtigen" Weg verließe:
"Tue das, was man von dir verlangt und alles wird gut!
Auch dann, wenn du nicht weißt, was das sein soll!"
Nachmittags
waren beide Eltern in der Arbeit und ich verbrachte meine
glücklichsten Stunden. Ich liebte den großen Garten
der Eltern und der Großeltern, mit denen wir zusammen
in Nachbarschaft wohnten, in dem ich meine Spiele und eigenen
Geschichten leben konnte. Das war doch eigentlich schon mein
Leben! Weshalb sollte da noch etwas Anderes kommen, auf das
ich zusteuern musste? Ich sah keine Notwendigkeit. Um wie
vieles reicher war meine Welt, als die eigentliche?! Da war
ich der Held, der Indianerhäuptling, der Supermann, der
Kapitän und Kommissar. Niemand als meine Phantasie konnte
mich bremsen. Ich liebte diese Nachmittage im Sommer und wünschte
sie würden nie vergehen. Ich liebte den Geruch von gemähtem
Gras, von gebackenem Kuchen und von Kokossonnenmilch. Beinahe
täglich verbrachte ich diese Stunden mit Freunden und
vergaß dabei zumeist die Zeit. Irgendwie ahnte ich,
dass das das Glück sein musste, von dem so oft die Rede
war.
Das alles ereignete sich in den verrückten Siebzigern:
Alles sollte besser, gerechter und bunter werden! Sogar meine
Oma dekorierte ihre Wohnung auf Orange um. Und das lag daran,
dass 1968 die langhaarigen Hippies die Weltherrschaft übernommen
hatten und der Mond zum Bewohnen nahe gerückt war. Vorausgegangen
waren die Goldenen Sechzigern, in denen ich geboren war. In
mir - also dem Kind, das man den Babyboomern zurechnen sollte
- setzten alle größte Hoffnung. Ich schien ein
Kind einer neuen Ära, "the only one", allerdings
gerade so einzigartig, wie alle anderen eineinhalb Millionen
Kinder, die allein in Deutschland in meinem Jahr geboren wurden:
1964. Schnell war uns klar: Wir werden es sein, die den Mond
später einmal mit unseren Glaskuppelhäusern und
Raketenlandeplätzen besiedeln werden. Unsere Kinder werden
dereinst mit ihren Elektrorollern in Mondkratern ihre Runden
drehen. Bis dahin sind sämtliche Krankheiten, wenn nicht
ausgerottet, so doch zumindest jederzeit heilbar. Das Mobiltelefon
werden wir ebenfalls erfinden, wie den Tricorder zur Analyse
jedes Problems, das uns noch geblieben sein wird. Anything
goes hieß unsere Devise.
Doch ich entdeckte auch, dass es mehr Welten gab, als nur
diese einzige Zumutung, die mir meine Zeit zugedacht hatte.
Hier also, hatten sie mich ausgesetzt! Aber noch hatte ich
ein wenig Zeit, wie mir schien. Und die nahm unversehens Fahrt
auf.
»When
It Was Sixty-Four«
M.,
Mr. MTV
6a. Y Kids
R Watching TV
Eine verheißende
Ahnung von der Vielzahl der Welten, die möglich waren, bekam
ich, natürlich durch meinen Erstkontakt mit dem Buch. Mit
Kara Ben Nemsi durchs wilde Kurdistan und mit Old Shatterhand
durch den Wilden Westen. Zu den Schatzinseln und verlassensten
Orten, ferne Welten wollten erkundet und befahren werden.
Eine der größten Versuchungen allerdings hielt die Kiste im
Wohnzimmer bereit. Das Fernsehen bot die Möglichkeit einer
nahezu realen zweiten Wirklichkeit von solcher Nähe und Direktheit,
dass sie mich nicht wieder losließ. Auf plausible Art und
Weise konnte man tatsächlich erkennen, dass eigentlich alles
möglich war, was man sich auszudenken vermochte. Mein kleines
Zimmer und mein Garten beherbergten nur meine in mir gefangenen
Fantasien, doch mit dem Fernsehen waren doch die Optionen
für jedermann sichtbar. Wir lebten offensichtlich in einer
Welt der Möglichkeiten. Die Sehnsuchtsorte hießen auf einmal
Texas oder Kalifornien und in Städten wie New York und L.A.
schienen sich tatsächlich Dinge zu ereignen, von denen man
hier keine Ahnung zu haben schien. Und da war auch wieder
dieses San Francisco! Auf dessen Straßen die Autos Luftsprünge
machten und die Cops - wie die Polizisten dort hießen - nicht
lange fackelten. Allein die Namen klangen wie Musik. Da ritten
Little Joe und seine Cartwright-Brüder über ihre unendliche
Bonanza-Ranch. Ich liebte allein den Vorspann der Serie, wenn
die bildschirmfüllende Landkarte in der Mitte Feuer fing.
Und dazu eine unvergessliche Western-Melodie. Wie oft habe
ich das nachgestellt. Es ging aber noch weiter: Der Weltraum;
und sein Zugang stand im Wohnzimmer. Samstagabend entführte
mich Raumschiff Enterprise in Welten, die angeblich nie ein
Mensch zuvor gesehen hatte! Es gab sie also, nicht nur in
meinem Kopf die anderen Welten. Und welche, war für mich?
Hatte ich eine Chance zu wählen, oder hatte man mich einfach
hineingeworfen? In der Schule prahlte man dann mit den Fernsehserien
und Filmen, die man gesehen hatte, und je später deren Sendetermine,
desto mehr konnte man sich Respekt verschaffen. Je blutrünstiger
das Gesehene, umso größer der Erwachsenenbonus! Edgar Wallace,
stand ganz oben im Ranking. Die Cowboys, Sheriffs, Detektive,
Kommissare und Edel-Gangster ließen träumen, schaudern und
machten hoffnungsfroh auf ein spannendes Anderswo, jenseits
des täglichen Zeitverschwendens.
»Y
Kids R Watching TV«
M.,
Captain Clio, Betula
6. I Might
Be Your Hero
Wenn ich dann einmal
mehr des nachts erwachte und zitternd vor Angst in die Dunkelheit
stierte, stürzte ich mich in meiner Not auf den Stapel mit
Comicheften, der stets rettend in Reichweite lag. Niemand
anderer wollte ich sein, als ein solcher Held, wie in diesen
bunten Bildern beschrieben. Über Kräfte verfügen, die die
Welt vermochten aus ihren Angeln zu heben, das war mein Traum
in diesen Nächten. So ging ich auf Reisen mit Captain Clio,
drang in Galaxien vor, deren Namen ich noch nie gehört hatte
und kehrt gestählt und unverwundbar aus dem Universum zurück,
um zu retten, was mir lieb und teuer war. Captain Clio war
mein unerschütterlicher Weggefährte und er sollte es noch
lange bleiben! Er stand mir bei, auf meinen Missionen für
das Gute in der Welt. So würden alle irgendwann zu spüren
bekommen, was es hieße ungerecht zu sein! Ich wartete nur
auf den Moment, da sich alles Bisherige in Wohlgefallen auflöste
und wir beide die Kulissen durchbrechen würden. Ich endlich
mein Cape auspacken konnte, um den Kampf aufzunehmen, gegen
alles und jedermann, die es nicht mit der Gerechtigkeit hielten.
Ich war drauf und dran wie Batman des nachts meinen Freunden
beizustehen, meine Liebe und die Welt zu retten und das Banale
und Böse aus ihr zu vertreiben. Dann würde auch Betula endlich
erkennen, wozu ich im Stande war. Sie würde mich vorbehaltlos
lieben und meine Heldentaten verehren. Betula ging seit kurzem
mit mir in die selbe Klasse. Sie hatte das weiche Gesicht
eines Engels und endlos langes Haare, und wenn mich ihre großen
Augen eines Blickes würdigten, tat sich für mich eine weitere
ganz eigene Welt auf, die mich berührte, wie nichts zuvor.
Sie schien mir die Gewissheit zu geben, dass es etwas gibt,
für das es sich zu leben lohnt.
Die
Chancen, dass diese Träumereien wahr werden würden, standen
eigentlich nicht schlecht. Schließlich kamen wir aus dem Space-Age
und die Zahl 2000 lockte mit den Verheißungen eines neuen
Jahrtausends! Greifbar nahe stand uns die Zukunft. Wir konnten
also noch Teil dieser Geschichten werden! Die Möglichkeit
schien historisch und nur uns gegeben. Das Universum wächst
mit jedem Tag und so wuchs auch meines. Es taten sich regelmäßig
weitere Echokammern auf, zu denen ich Zugang suchte und in
denen ich mich versuchte häuslich einzurichten. Die Musik
weckte Emotionen in mir, wie es sonst nur Betula vermochte.
Das Zeichnen und Beobachten lockte mich und dass ich mich
für das Lesen begeisterte, hatte den ganz banalen Vorteil,
es beeindruckte meine Mutter. So sehr, dass sie mir bald ungefragt
den ersten Karl May-Band zuschob und im Folgenden immer wieder
einen nachlegte. Ich verschlang diese Abenteuergeschichten,
und wenn ich fleißig las - was ich mit Begeisterung und zunehmender
Lust tat -, gab sie mir ab und an auch einen dieser faszinierenden
Comic-Bände, die man am Bahnhofskiosk erstehen konnte, obendrauf.
»I
Might Be Your Hero«
M.,
The Many
7. Never Mind
"Du brauchst einen
Plan, was Du einmal werden willst!", hieß es mit einem
Mal und der Auftrag zielte keineswegs auf ein Heldendasein
ab. Niemand fragte schließlich, wer ich einmal werden
will. Mir machte es Angst, dass offenbar alle anderen einen
solchen Plan haben sollten. Da mir anscheinend niemand bei
dessen Entwicklung mit dem nötigen Verständnis bei Seite stehen
wollte, beobachtete ich, was die anderen taten. Da offensichtlich
alle an dieser Welt ihren Spaß hatten, ging ich davon aus,
dass mit mir etwas nicht stimmen konnte. Auf irgendeine Weise
war ich scheinbar ein Andersdenkender geworden. So fühlt es
sich jedenfalls an, wenn man nicht weiß: "Ist alles so toll,
wie es scheint?" Um meiner Dissonanz mit dem Geschehen um
mich her Ausdruck zu geben, kleidete ich mich schwarz, trug
mein Haar lang, und verweigerte mich zunehmend den üblichen
Ritualen. Scheint es nur mir als unaufrichtig, wie sie sich
verhalten und hinterfragt denn niemand, ob es gut oder falsch
ist, alles so zu tun, wie "man" es macht. Ich distanzierte
mich von dem "Man" und den Vielen. Verabredeten
sich die anderen doch scheinbar nur zu sinnlosen Feiern, auf
denen mit Smalltalk Freundschaft geheuchelt wurde. Am Ende
aber schien jeder und jede dennoch ihre Erfüllung gefunden
zu haben. War alles nur Oberfläche, oder war die Oberfläche
schon alles? Als gäbe es eine Geheimsprache, die mir niemand
beigebracht hatte. Waren das die Praktiken und waren Täuschen
und Überlisten wiedererwarten doch eine Tugend? Während die
anderen Partys veranstalten, wunderte ich mich über Freud
und Leid in dieser Welt und hing meinen Frauenträumen nach.
Langsam baute sich eine innere Hülle auf, die mich schützen
sollte und die mich verbarg hinter einer Maske aus Coolness
und Souveränität. Ich simulierte Unabhängigkeit. War man mir
damals begegnet und hatte man mich gefragt, was ich mit meinem
Leben anfangen will, so entgegnete ich: "Kein´ Plan!" Was
nur konsequent war in einer Zeit, da die gängige Parole lautete:
"No future!"
Ob
es Trotz war oder nicht, ich habe es so gefühlt. Ich lief
durch die Straßen und steckte nur kurz meine Nase in die Kneipen,
Discos und Clubs in denen Freude und Ausgelassenheit zu herrschen
schienen. Ist das Leben ein Als ob? Gibt es nirgendwo einen
festen Grund? Lebten wir deshalb in diesen doppelten Welten,
und war das der eigentliche Grund für den Drogenkonsum? Es
war nicht cool, es war ein letzter Ausweg. Insgeheim stellte
sich jeder die gleichen Fragen! Die Kunst lag nur im angemessenen
Verdrängen. Was ist mit den Werten und der Gerechtigkeit,
was in jeder der Geschichten, die man sich erzählte, das höchste
zu erreichende Gut waren. Niemanden schien sich im echten
Leben darum zu scheren oder auch nur zu interessieren. Nirgendwo
hielt es mich! Ich sah überall Krieg und Streit, Anmaßung
und Leid, Hunger, Sex und Unterdrückung, während allerorten
von Liebe, Verständnis und gegenseitiger Hilfe gepredigt wurde!
Nein, ich war fremd in dieser Welt, in der sich alle darum
bemühten sich zu amüsieren. Das Leben musste ein riesiger
Spaß sein, und war nur mir so fremd? Meine Freunde wurden
weniger, sie hielten mich für arrogant. Ich reagierte mit
einem verächtlichen "Fuck Off", und die Spirale in die Einsamkeit
nahm ihren Lauf. Aber was machte das Leben lebenswert, wenn
ich nicht so sein konnte, wie ich war?! Jedes Mal, wenn ich
so dachte, erschein allerdings sofort ein großes Aber: Vielleicht
wusste ich einfach nicht, wie ich wirklich war und was ich
zu tun hatte! Wer sagte mir, ob ich nicht über jenen Schatten
springen musste, der sich mir in den Weg stellt, jeden Tag
wieder, dann würde sich auch mir das Glück erschließen. Nur
einer blieb für immer: Der Zweifel. Niemals mich verleugnen
- das stand ganz oben in meinen Geboten. Das durfte nicht
geschehen, ich musste immer ich selbst sein. Die Aufrichtigkeit
mir gegenüber und dem, was ich wollte, das war das Letzte,
was ich aufgeben durfte! Ich schlug meinen Mantelkragen hoch
und begleitete mich selbst in den Schaufenstern der Stadt
und durch die Pfützen auf dem Asphalt.
»Never
Mind«
8. An
Actor
9. When
I Met You
Coming
soon!
INFO
BOOK
We
proudly present the
LIFEALBUM INFO BOOK (german)
Für Regisseure,
Theatermacher, Produzenten und alle Fans.
SYNOPSIS
SYNOPSIS
PART
I
Dies
ist die Geschichte von M.
M. ist einer von "Den" Vielen.
Geboren 1964, dem Höhepunkt der Babyboomer.
Die
Zeiten sind optimistisch. Die Menschheit betritt zum ersten Mal
den Mond.
Die Vielen haben sich viel vorgenommen,
weil die heraufdämmernde Wohlstandsgesellschaft in diese Generation
ihre Hoffnung auf eine bessere Welt setzte!
Heute
kommt M. von seiner Reha zurück. Er
hat einen Selbstmordversuch überlebt.
Das
ist ein Jahr her, dennoch weiß er nicht, wie er jemals wieder ein
normales Leben führen soll.
M.
zieht sich von der Welt zurück; lebt einzig in seinen virtuellen
Welten seiner Computerspiele.
Genau
dort stößt er auf ein rätselhaftes Buch. Als er beginnt darin zu
lesen, saugt es ihn auf.
Er ist gezwungen die Bilder seines Lebens nochmals Revue passieren
zu lassen.
Er
erinnert seinen Pakt mit dem Teufel und durchlebt das Spiel noch
einmal, zu dem er sich verführt sah.
HISTORY
- DER HINTERGRUND
DER HINTERGRUND
ALLGEMEIN
1:
1964
werden in Deutschland so viele Kinder geboren, wie nie zuvor.
Es ist der Höhepunkt und das Ende der Baby Boomer Zeit.
Gleichzeitig beginnt die Welt sich rasant zu verändern:
Die dritte industrielle Revolution ist in vollem Gange, das
Leben wird immer schneller, Entfernungen schrumpfen - die
Welt wird zum globalen Dorf. Die Digitalisierung verdrängt
bisherige, analoge Formen der Wissensspeicherung und -verbreitung:
Elektronische Datenspeicherung statt Bücher und Bibliotheken,
Rechenzentren statt mühsamer Berechnungen. Die Forschung
und Entwicklung generiert neue Errungenschaften, neue Produkte
entstehen in immer kürzeren Intervallen. Was gestern
noch unmöglich erschien, rückt in greifbare Nähe
oder ist im Alltag zur Normalität geworden.
Die Formen der Kommunikation und das soziale Miteinander ändern
sich: Wer schreibt noch Briefe im Zeitalter der E-Mails? Wer
telefoniert noch? Man trifft sich auf den Social Media Plattformen,
statt in der Eckkneipe. Das gemeinsame Fußballspiel,
oder Tennisturnier? Wird ersetzt durch Cloud-Gaming miteinander
vernetzter Spieler: Treffpunkt zu einer beliebigen Zeit in
einer virtuellen Welt, statt im Vereinsheim um acht Uhr. Jeder
ist jederzeit erreichbar. Im Netz ist immer jemand da...
Die 64er erleben diese Veränderung wie keine andere Generation.
Sie stehen an der Schwelle zwischen analogem und digitalem
Zeitalter. Sie gehören zur ersten Generation, die mehrere
industrielle Revolutionen in einem Leben miterlebt.
Wie fühlt sich diese Generation, die durch ihre große
Menge eine Besonderheit im demographischen Spektrum darstellt?
Wodurch ist diese Generation geprägt? Entstand ein kollektives
Bewusstsein? Wie ist das Verhältnis zueinander? Konnte
man aus dieser Menge herausragen, oder löste sich die
Individualität in der Masse auf?
2
Sind sie Konkurrenten,
die um Jobs, Beziehungen, Wohlstand ringen - oder sind sie
Gleichgesinnte, mit gleichen Träumen, Wünschen und
Hoffnungen, die gemeinsam für eine verheißungsvolle
Zukunft arbeiten? Sind sie sich der Macht der Masse bewusst?
Es ist eine Zeit der Euphorie für die Zukunft, in und
mit der sie aufwachsen, doch diese weicht einer Ernüchterung.
Desillusioniert von den tatsächlichen Bedingungen und
Verhältnissen, wirtschaftlichen und politischen Ereignissen
und dem Bewußtsein der Grenzen einer Einflussnahme,
hält Pragmatismus Einzug in das Denken.
Der Wandel zu einer Informationsgesellschaft wird vorangetrieben.
Die Digitalisierung ersetzt analoge Techniken und damit werden
Träume von damals in reale Dinge umgesetzt: Der Communicator
der ScienceFiction Serie "Star Trek"? - Ein Vorläufer
unserer Smartphones. 3D-Druck, VR, KI, Robotik, MRT als Schlagworte
für Entwicklungen und Entdeckungen, die zu Fortschritten
in Industrie, Technik, Biologie, Medizin und anderen Bereichen
geführt haben - die Liste lässt sich beliebig fortsetzen.
Die weltweite Vernetzung und Kommunikation ist Fluch und Segen:
Einerseits stehen immer mehr Informationen in immer kürzerer
Zeit zur Verfügung, auf der anderen Seite ist diese Flut
an Informationen nicht in diesem Tempo zu verarbeiten.
Quantität bedeutet jedoch nicht gleich Qualität,
im Gegenteil: Es wird immer schwieriger zu differenzieren,
was echt oder falsch ist, wahr oder unwahr, Tatsachen oder
fake news - was ist wichtig, was nicht?
Die Möglichkeiten der Virtualisierung werden immer realistischer.
Es ist ein Weg, dem realen Leben zu entfliehen. Eine weitere
industrielle Revolution bahnt sich an...
Was bleibt, ist der Mensch. Was lässt ihn scheitern?
Die Angst vor den Scheitern.
M. ist ein 64er, der das Buch des Lebens durchblättert
und uns an seinen Erlebnissen, Träumen, Wünschen,
Sehnsüchten, Enttäuschungen, Frustrationen, aber
auch Hoffnungen teilhaben lässt - seinem Lifealbum.
...
*
IDEA BY HERMANN
DIEMINGER & JÜRGEN MICK/
STORYBOOK BY »NEW HOME IDIOTICS« /
MUSIC COMPOSED BY MICK JØRGENSEN & HERMANN DIEMINGER /
SCREENPLAY BY THOMAS SCHALLER & GÜNTER SCHWEIGARD /
DRAWINGS
BY THOMAS SCHALLER /
MOTION PICTURES & MODELING CRAFT & SCENERY BY GÜNTER SCHWEIGARD
/
ARTWORK BY JÜRGEN MICK /